Börsengefühle: Angst und Gier

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Investitionen sind eine schöne Sache. Man lernt etwas über die Wirkungsweise der Wirtschaft, versteht politische Vorgänge besser und man erfährt, dass der Aktienkauf ein ähnliches Hochgefühl auslösen kann, wie ein neues Paar Schuhe. Vor allem aber lernt man sich selbst dabei von einer ganz anderen Seite kennen. Bevor ich in Aktien oder Kryptowährungen investiert habe, war mir nicht klar, dass meine sonstige Bescheidenheit einer euphorisierenden Gier weichen würde. Oder wie ich reagieren würde, wenn ich plötzlich innerhalb eines Monats einen vierstelligen Betrag verlieren würde. Beides weiß ich jetzt.

Jetzt und Gier

Gier, Lust, Begehren oder Verlangen drücken eigentlich alle im Wesentlichen das Gleiche aus: Haben wollen. Gier ist allerdings ein unglaublich negativ besetztes Wort und löst schon allein in unserem Kopf ein ganz anderes Bild aus, als beispielsweise Lust.

Wenn ich sage, ich habe Lust shoppen zu gehen und mir neue Kleider zu kaufen, stelle ich mir vor, wie ich leichten Fußes durch die Münchner Innenstadt stolziere, ganz unbekümmert hier und da sanft lächelnd in ein Schaufenster blicke, mit viel Spaß und guter Laune ein paar Kleider anprobiere und sie dann glücklich tanzend nach Hause trage. Gier ist anders.

Bei Gier sehe ich mich lechzend von Shop zu Shop rennen, Menschen aus dem Weg schubsen, wild Kleider durch den Laden werfen oder es gleich anderen Frauen aus der Hand reißend, um nach dem wirklich besten und schönsten Kleid zu suchen – und es auch zu finden.

Diese Situation beschreibt eigentlich schon die Steigerungsform von Gier, Habgier. Habgier ist das rücksichtslose Streben nach materiellem Besitz und schon seit dem Christentum eines der schlechtesten Laster überhaupt, sogar eine der sieben Todsünden. Was ist also der Unterschied zwischen Gier und Habgier?

Vorfreude ist eben doch die schönste Freude

Neutral betrachtet, bedeutet Gier nicht gleich, dass man wie ein wild gewordener Affe durch die Gegend läuft und sich allen anderen gegenüber rücksichtslos verhält. Gier kann auch ein starker Antrieb sein. Besonders an der Börse. Denn wieso sollte man an der Börse sein Geld investieren, wenn man nicht das Ziel verfolgt, sein Geld zu vermehren? Ohne diese Form der Gier und der Vorfreude auf den Gewinn würde es vermutlich nur halb so viel Spaß machen.

Neurowissenschaftler der Stanford University werteten 21 experimentelle Untersuchungen aus, die den neuronalen Wurzeln der Geldgier auf den Grund gingen. Dabei stellten sie fest, dass in allen Versuchen die Probanden besonders stark auf einen erwarteten finanziellen Gewinn reagierten.

Das Geld, das sie bereits besaßen weckte nur eine schwache Gefühlsregung in ihnen. Die Aussicht auf einen noch so kleinen Geldsegen führte regelrecht zu einem neuronalen Feuerwerk im Inneren. Auch hier gilt also das alte Sprichwort „Vorfreude ist die schönste Freude.“

Vorfreude und Gier an der Börse

Ich hätte es niemals für möglich gehalten, aber mittlerweile habe ich das gleiche Hochgefühl beim Kauf einer Aktie, wie beim Kauf eines schönen Kleides. Und das sogar noch viel intensiver und länger. Kaufe ich ein neues Kleid, stelle ich mir vor, wie ich es im Urlaub trage, was ich damit kombiniere und wie gut ich darin aussehe. Ist es dann so weit, merkt man, dass es irgendwie doch etwas zwickt und eigentlich gar nicht so gut zu flachen Schuhen passt, man aber die High Heels nicht zum Sightseeing anziehen kann.

Kaufe ich Aktien, dann stelle ich mir bereits beim Kauf vor, welchen Kurs die Aktie wohl noch einnimmt und träume von einer kometenhaften Entwicklung. Vielleicht kann ich sie in einem Jahr mit 10 % Gewinn verkaufen?

Oder vielleicht nimmt sie noch richtig Fahrt auf und verdoppelt sich am Ende sogar, weil Warren Buffet sie bald auch kauft und dann auch alle anderen Anleger. Und dann denke ich vielleicht auch wieder an die vielen Kleider, die ich mir dafür kaufen könnte.

Gesunde Gier

Vorfreude entsteht nicht nur beim Kleiderkauf, sondern auch beim Aktienkauf. Aber beim Aktienkauf braucht es auch eine kleine Portion Gier, damit man auch mal bereit ist kleine, kalkulierte Risiken einzugehen. Als die VW-Aktie 2015 gefallen ist, habe ich zugeschlagen. Es war mein erster Kauf einer Einzelaktie und ich habe genau das gemacht, was viele Anfänger scheuen: Eine Aktie gekauft, während sie fällt.

Danach ging es mit dem Kurs immer wieder rauf und runter und die Nachrichten zu VW und dem Dieselskandal überschlugen sich. Täglich gab es neue Informationen und neue Erkenntnisse. Die Aktie stieg innerhalb weniger Wochen um 10 %, dann sank sie wieder um 8 %. Dann stieg sie wieder, nur um danach abzusinken. Ein Auf und Ab der Gefühle.

Und ich wusste nie: Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um sie zu verkaufen? Am Ende habe ich sie dann nach zwei Jahren mit immerhin 40 % Gewinn verkauft. Denn in diesen unruhigen Zeiten, empfand ich neben der Gier auch ein anderes Gefühl: Angst.

Börsenangst

Beim Kauf einer Aktie empfinden wir also Vorfreude und auch ein wenig gesunde Gier. Dies dauert so lange an, bis der erste Kurseinbruch kommt. Anfangs denkt man sich noch: Ach, das geht bald vorüber und ist nur eine kleine Korrektur. Man hat ja eben erst investiert, dann kann die Aktie doch nicht gerade jetzt an Wert verlieren. Plötzlich entwickelt man einen ganz starken Glauben in das Gute im Leben.

Ich hatte lange Zeit die Aktien des chinesischen Automobilherstellers BYD im Blick. China wird die USA als stärkste Wirtschaftsmacht vermutlich in ein paar Jahren ablösen. Zudem stellt BYD Elektroautos her und die braucht das Land, um nicht im Smog zu versinken. Also eigentlich eine sichere Nummer. Ich kaufte die Aktie bei 5,55 €, nur um zu sehen, wie sie danach langsam, aber stetig fiel. Und fiel. Und fiel. Bei 5,10 € blieb sie sie schließlich stehen, bevor sie danach in die Höhe schoss.

Die ersten Tage nach dem Kauf war ich trotzdem etwas angespannt. Denn irgendwie glaubt man, genau diese Aktie müsste jetzt große Sprünge machen. Jetzt, wo man sie doch gekauft hat und ist ein wenig ratlos, wenn genau dieser Zufall sich nicht ereignet.

Kämpfen, fliehen oder tot stellen

Wenn Ratlosigkeit in Angst umschlägt, geht es aber schon um fundamentalere Veränderungen an der Börse. Diese dürften den einstigen Telekomaktienbesitzern bekannt sein. Denn statt irgendwann die Wende einzuschlagen, fiel die Telekomaktie unentwegt weiter. Verluste werden in der gleichen Hirnregion verarbeitet, wie Schmerzen oder bedrohliche Situationen.

Die Natur hat uns für solche Momente mit exakt drei Alternativen ausgestattet, zwischen den wir wählen können: kämpfen, fliehen oder gleich tot stellen.

  • Kämpfen würde in dem Fall bedeuten, wir glauben an unseren Sieg, nutzen die Gunst der Stunde und kaufen sogar Aktien nach, da der Preis gerade besonders günstig ist.
  • Fliehen: Wir verkaufen die Aktien und versuchen unseren Verlust nicht zu vergrößern. Denn besser mit einem blauen Auge davon kommen, als am Ende aufgefressen zu werden.
  • Und tot stellen, geschieht, wenn wir einfach in einer Angststarre verharren, und versuchen möglichst wenig zu tun, bis die Situation an uns vorüberzieht.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass tot stellen oft die beste Überlebenstaktik war. Aber das gilt nur für mich, und jeder Mensch ist hier anders. Wenn ich mir eine Aktie kaufe, dann überlege ich mir vorher gut, warum ich sie kaufe und wie ich ihre Entwicklung einschätze. Fährt sie dann mal wirklich immer weiter Richtung Süden, versuche ich das zu tun, was auch ich im warmen Süden tun würde: Entspannen.

Ich schaue dann nicht mehr in meine Aktiendepots und hoffe, dass sich die Situation wieder stabilisiert. Dazu muss ich aber sagen, dass ich bei Einzelaktien auch nur Geld einsetze, was ich vorher kalkuliert habe und dessen Verlust ich mir auch schon vergegenwärtigt habe. Man setzt eben nie Geld ein, welches man eventuell noch braucht

Mit Angst umzugehen lernen

Wer in Aktien investieren möchte, muss daher meiner Meinung nach wohl oder übel lernen, mit seiner Angst umzugehen. In seinem Buch „Die Kunst über Geld nachzudenken“ spricht André Kostolany auch von zittrigen Händen. Das bedeutet, dass Menschen, die nicht mit ihrer Angst umgehen können, ihre Aktien verkaufen, sobald der Kurs fällt. Steigt der Kurs, kaufen sie die Aktie wieder nach. Und das ist so ziemlich das Schlechteste, was man an der Börse machen kann: Hoch kaufen und niedrig verkaufen.

Hat man diese ängstliche Taktik drei bis vier Mal hintereinander ausgespielt, hat man vermutlich sein halbes Vermögen schnell in Luft aufgelöst. Daher solltest du immer antizyklisch kaufen: Bei fallenden Kursen kaufen und bei steigenden Kursen verkaufen.

Wie lernt man also mit seiner Angst umzugehen? Meiner Meinung nach gelingt es am besten mit Wissen und Weiterbildung. Indem man sich in das Thema einliest, bevor man investiert und indem man die Regeln des Marktes ein wenig kennt. Denn dann kann man auch bei mal fallenden Kursen gelassener bleiben. Ein weiterer wichtiger Punkte, ist wie schon oben erwähnt, nicht seine gesamten Ersparnisse auf Aktien zu setzen, sondern nur das Geld, auf das man gerade verzichten kann.

Ich handhabe es so, dass ich jeden Monat einen festen Betrag auf mein Tagesgeldkonto einzahle, um im Notfall immer flüssig zu sein und einen gleich großen Anteil in ETFs investiere. Bleibt mir am Ende des Monats Geld übrig, dann kaufe ich mir davon Aktien – manchmal aber auch schöne Schuhe.

Und falls all die Tipps gegen Angst nicht helfen, hat Kostolany noch einen weiteren Börsentipp: Kaufen Sie Aktien, nehmen Sie Schlaftabletten und schauen Sie die Papiere nicht mehr an. Nach vielen Jahren werden Sie sehen: Sie sind reich.

André Kostolany